Manuskripte 2023

Kirchentag in Nürnberg

In dieser Datenbank haben Sie die Möglichkeit, Redebeiträge vom Kirchentag in Nürnberg 2023 einzusehen.

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Sperrfrist
So, 11. Juni 2023, 10.00 Uhr

So
10.00–11.00
in Deutscher Gebärdensprache
Schlussgottesdienste | Großgottesdienst
Alles hat seine Zeit
Schlussgottesdienst
Quinton Ceasar, Pastor, Wiesmoor

Wir vertrauen Eurer Liebe nicht

Liebe Gemeinde, liebe Geschwister hier auf dem Hauptmarkt, daheim und unterwegs,

I.

Ein Satz aus meiner Kindheit zaubert mir immer 

ein Lächeln auf mein Gesicht: 

„Oe haliha, moetie soe liegie, daai kind!“

Er bedeutet so viel wie: 

„Hey du, lüg nicht so.“  

„Hey du, lüg nicht so.“  

 

Ich werde Euch heute keine Lügen erzählen. 

Und deshalb sage ich Euch: 

Dieses melodische „Alles hat seine Zeit“ 

– das ruft bei mir Unbehagen hervor. 

Es macht mich nervös, ängstlich und auch ärgerlich! 

 

Menschen, 

die Veränderungen anstreben, 

Aktivist*innen und marginalisierte Menschen, 

bekommen oft zu hören: 

„Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. 

Hab Geduld. 

Vertraue dem Prozess. 

Wir müssen alle mitnehmen.

Alles hat seine Zeit.“

 

Moetie soe liegie, daai kind! Bitte lügt uns nicht an! 

Ich werde euch heute nicht anlügen:

Wir können nicht mehr warten. 

Nicht bis morgen oder nächste Woche. 

Oder das nächste Mal, 

wenn wir eine andere Regierung, 

wenn der Rat der EKD, 

wenn unsere Synoden,  

wenn das Präsidium des Kirchentages gewählt werden,

diverser und inklusiver besetzt werden. 

Wir können nicht warten.   

 

Jesus sagt nicht: „Alles hat seine Zeit“, 

Jesus sagt: „Die Zeit ist jetzt!“

 

Wenn Jesus sagt: „Jetzt ist die Zeit!“, 

dann ruft er zur Veränderung auf, 

zu mutigen Entscheidungen, 

die wirklich Veränderung bewirken.  

Ja, es gibt sie, die entscheidenden Momente. 

Und ja, du kannst wählen zwischen richtig und falsch.

Das lernen wir von Jesus, der sagt: „Die Zeit ist jetzt!“

 

II.

Ich werde Euch heute nicht anlügen. 

Nicht wenn es um Zeit. Und nicht wenn es um Liebe geht. 

Lasst uns über die Liebe sprechen. 

Wir zitieren gern mal „Glaube, Hoffnung, Liebe.“

Wir sagen: „Die Liebe leitet uns.“

Wir singen: „All you need is love.“

Und wir versprechen: „Wir, die das Gute wollen, sind mehr.“

James Baldwin, der Schwarze und schwule Schriftsteller und Aktivist hat gesagt: 

„Die Liebe war noch nie eine Massenbewegung.“ 

Und er hat damit nicht gelogen.

Die Welt wird von der Liebe und der Leidenschaft 

einiger weniger Menschen zusammengehalten.

Und darum geht es doch!

 

Wie James Baldwin, bin ich kein Pessimist. 

Ich weiß, wie es ist, diskriminiert zu werden. 

Ich und andere wie ich, 

wir kennen die Grenzen und Schwächen des Satzes: 

„Liebe deinen Nächsten.“

 

Deshalb tanze ich lieber zu Tina Turners 

„What's love got to do with it“, „Was hat das denn mit Liebe zu tun?“

Und deshalb halte ich es lieber mit Bell Hooks, die sagt: 

„There can be no love without justice.“

„Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Liebe.“

 

III.

„Alles hat seine Zeit“ oder „All you need is love“

erinnert mich aber eher einen Happyland-Zustand. 

Happyland, das ist ein Wort von Tupoka Ogette, 

die damit beschreibt, wie sich Menschen fühlen, 

die keine Diskriminierungen erfahren 

und auch nicht sehen, dass andere sie erfahren.  

Happyländer*innen, also Leute aus Happyland, sagen: 

„Gott liebt uns alle gleich“

Happyländer*innen sagen: 

„Ich sehe keine Hautfarbe, keine Behinderung, kein Geschlecht“ 

Happyländer*innen sagen: 

„Jesus Christus hat uns alle durch seine Liebe befreit.“ 

Sie sagen: „Die Kirche ist ein sicherer Ort für alle.“ 

 

Moetie liegie daai kind! Hey, lügt uns nicht an.  

 

Es ist leichter, von befreiender Liebe zu predigen, 

als eine Liebe zu leben, die befreit. 

 

Doch wenn ihr von der Liebe predigt, die alles besiegt, 

und trotzdem meine Geschwister und mich diskriminiert –

wegen unseres Einkommen, unserer Hautfarbe, 

unserer Behinderung oder unserer queeren Identität.

Dann sagen wir: Moetie liegie daai kind!

Meine Geschwister und ich –

wir sind Kirche.

Wir sind kein Gegenüber, 

brauchen keine Nächstenliebe 

oder Zuwendung von oben herab. 

Wir sind Kirche. 

Und meine Geschwister und ich sagen: Jetzt ist die Zeit! 

Wir vertrauen eurer Liebe nicht. 

Wir haben keine sicheren Orte 

in euren Kirchen. 

 

Ich werde euch heute nicht anlügen. 

 

Die Zeit ist jetzt, zu sagen: 

Wir sind alle die Letzte Generation. 

Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Black lives always matter. 

Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Gott ist queer. 

Jetzt ist die Zeit, zu sagen: We leave no one to die. 

Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Wir schicken ein Schiff.

UND wir empfangen Menschen in sicheren Häfen.

Safer spaces for all. 

 

Gott ist immer auf der Seite derer, die am Rand stehen, 

die nicht gesehen oder nicht benannt werden.

Und wenn Gott da ist, dann ist da auch unser Platz.

Gott ist parteiisch.

 

„Check your privilege!“

Wir haben alle Privilegien 

und können sie für mehr Gerechtigkeit einsetzen.

Wir können füreinander Verbündete sein. 

Wir sind hier. Wir sind viele. 

Wir sind nie wieder leiser.

 

IV.

Ich weigere mich, euch heute anzulügen. 

Denn es ist auch die Zeit für das Ende der Geduld.

Jetzt ist die Zeit, um uns an die befreiende Liebe von Jesus

zu kleben und nicht an Worte, 

an Institutionen, Traditionen und Macht, 

an Herkunft und Heteronormativität.

 

Klebe dich an die Liebe, die befreit. 

Klebe dich an die Liebe Gottes, die befreit. 

 

„Liebe war noch nie eine Massenbewegung.“

Aber ich bin Optimist.

Amen. 


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